Bürgermeister Baaß appelliert an Bundes- und Landespolitik: „Halt! So geht es nicht mehr weiter!“

Die Leistungsgrenze der Kommunen ist überschritten

Änderungen der bisherigen Verwaltungspraxis für die Planung von Photovoltaik-Freiflächenanlagen aufgrund eines Beschlusses des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes, die einen erheblichen Mehraufwand bedeuten und das Verfahren verlängern; 300 Blatt Dokumentation inklusive zig Anlagen und Vorprüfung durch das Rechnungsprüfungsamt für Fördergelder im Rahmen des Baumpflanzprojektes „Ein Kind – ein Baum“; die Forderung zur Vorlage von Stundennachweisen der Mitarbeiter bei der Abrechnung der Fördergelder des Programms „Lokale Ökonomie“, obwohl dies ohne Belange ist; Eingangsbestätigung eines Förderantrages beim Hessischen Umweltministeriums nach eineinhalb Jahren und erst nach mehrmaliger Nachfrage von Seiten der Stadt Viernheim.

Das sind nur einige haarsträubende Beispiele, anhand derer Bürgermeister Matthias Baaß im Rahmen einer Präsentation den Gremienmitgliedern in der letzten Stadtverordnetenversammlung die „Alltagswelt“ der Stadtverwaltung Viernheim veranschaulichte, die abgesehen davon auch Alltag in allen anderen Kommunen in Hessen ist.

„Jeder Bürgermeisterkollege bzw. jede Kollegin kann Ihnen locker eine Stunde lang von Beispielen mit solchen Erlebnissen berichten“, macht Baaß auf die überschrittene Leistungsgrenze der Kommunen aufmerksam.

„Halt! So geht es nicht mehr weiter“ lautet daher eine Initiative des Hessischen Städte- und Gemeindebundes (HSGB), um an die Bundes- und Landespolitik zu appellieren und eine Politikänderung zu fordern. „Was wir brauchen, sind eine grundlegende Verwaltungsreform mit massivem Abbau von Bürokratie, eine Depriorisierung von Aufgaben sowie einem simplen Versprechen: Der Staat muss der kommunalen Selbstverwaltung wieder vertrauen!“, macht Baaß, der gleichzeitig Präsident des HSGB ist, deutlich. Gemeinsam haben sich die Hessischen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister im kommunalen Spitzenverband vorgenommen, die Lage in ihren Orten zu thematisieren mit dem Ziel, die politisch Verantwortlichen auf Landes- und Bundesebene zu erreichen, um in eine ehrliche Diskussion über die Leistungsfähigkeit der Kommunen einzutreten.

Wie ist die Lage?
Krise folgt auf Krise, Krisen überlagern einander und oft geht es um sehr große Herausforderungen: So erleben viele Menschen die vergangenen Jahre. Die Corona-Pandemie, schnell steigende Preise und die Frage der Sicherheit der Energieversorgung haben den Alltag weiter Teile der Bevölkerung spürbar verändert. Hinzu kommen die großen Fluchtbewegungen 2015/2016 und 2022/2023, der andauernde russische Überfall auf die Ukraine und der dadurch verursachte Krieg in Europa. Mit allen Herausforderungen für den Wohnungsmarkt und den Bildungsbereich wie Kindertagesstättenplätze, Schulen, Bedarf an Integration und Sprachförderung. Der zunehmend spürbare Klimawandel tritt hinzu und macht zusammen mit der demografischen Entwicklung vielfältige Anpassungen notwendig. Die Antwort kann nicht heißen: noch mehr Leistungen von den öffentlichen Händen. Baaß: „Das Maß an öffentlichen Leistungsversprechen passt schon länger nicht mehr mit dem zusammen, was die Leistungsfähigkeit hergibt, nicht nur wegen finanzieller Knappheit, sondern auch wegen personeller Ressourcen und überbordenden bürokratischen Anforderungen“.

Und die Menschen würden das merken, so Baaß, der eine Studie zur Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit dem Funktionieren der Demokratie aufzeigte, die Schritt für Schritt abnehme. Auch die Amtsträger seien hiervon betroffen: „Die haupt- und ehrenamtlichen Kommunalpolitiker gehen uns von Bord, wenn wir nichts ändern.“

Handlungsfähigkeit einer Kommune drastisch eingeengt
Die freie Selbstverwaltung einer Kommune, wie sie in Paragraph 1 der Hessischen Gemeindeordnung beschrieben ist, entspreche nicht mehr der Realität, so Baaß weiter. Fremdbestimmte Aufgaben würden immer mehr Personal und finanzielle Mittel der Kommunen binden. Durch die Gesetzgebung von Bund und Land würden aber immer mehr Aufgaben zur Pflicht gemacht. Zusätzlich würden die Anforderungen an diese Pflichtaufgaben noch weiter erhöht. Bestes Beispiel hierfür seien die mehrfach erhöhten Mindest-Personalanforderungen für den Betrieb von Kindertagesstätten. Zum Teil würden die Vorgaben sogar ausschließen, dass die Aufgaben der Kommune verlässlich und ordnungsgemäß erfüllt werden könnten. Hinzukäme, dass die Auswahl der Instrumente, die die Kommune nutzen darf, durch die staatliche Vorgabe noch verengt würden. Ganz zu schweigen von den organisatorischen Vorgaben über die Benennung von Beauftragten, Dokumentations- und Verfahrensanforderungen. „Und das Beste ist, dass dem einen Gesetz häufig auch schnell das nächste folgt, ohne dass die Wirkungen der zuvor getroffenen Vorgaben ausgewertet worden wären“, macht Baaß seinen Unmut deutlich.

Es muss sich was an diesem System ändern, daher fordere der HSGB konkret

  • Aufgaben und Standards müssen mit dem ausdrücklichen Ziel hinterfragt werden, zwingende Vorgaben zurückzunehmen und den Kommunen mehr eigenverantwortliche Gestaltung zu ermöglichen.
     
  • Konnexität muss auch in Hessen zuverlässig eingeklagt werden können.
     
  • Die Menschen in den Mittelpunkt: Die Tätigkeit der Kommunen soll laut Gesetz das Wohl der Einwohner fördern. In den Fokus gehört also, was der örtlichen Gemeinschaft praktisch nützt. Dokumentations- und Berichtspflichten beispielsweise gehören normalerweise nicht dazu.
  • „Lasst uns machen!“: Die Städte und Gemeinden stehen dafür, dass sie die Bedürfnisse der örtlichen Bevölkerung kennen und nach diesen Bedürfnissen und Möglichkeiten zielgenau darauf eingehen.

Bund und Länder müssten den Kommunen vertrauen und sie wieder in die Lage versetzen, sich selbst zu verwalten, so Baaß, der seinen Vortrag mit dem Satz des früheren Bundestagsabgeordneten Hermann Schmitt-Vockenhausen, der gleichzeitig aus der kommunalen Verwaltungsfamilie stammte, schloss:Die Gemeinden sind der eigentliche Ort der Wahrheit, weil sie der Ort der Wirklichkeit sind“.


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